"Der Osten wählt immer wilder als der Westen"

p&k: Herr Professor Korte, die Wahlbeteiligung in Sachsen war mit 48,5 Prozent erschreckend niedrig. Welche Rolle hat dabei der Fakt gespielt, dass die Landesregierung den Wahltermin auf den letzten Feriensonntag gelegt hat?

Korte: Eine große. Die Wähler in Urlaubszeiten zu mobilisieren, ist sehr schwer. Und von einer niedrigen Wahlbeteiligung profitieren oft kleine extreme Parteien, weil sie proportional leichter Stimmen für sich sammeln können und die einzelne Stimme an Gewicht gewinnt. 

Kann sich Ministerpräsident Tillich über seinen Wahlsieg überhaupt freuen? Immerhin ist ihm mit der FDP, die aus dem Landtag geflogen ist, der Koalitionspartner abhandengekommen.

Das stimmt, aber einen Nachteil hat die Union nicht aus dem Wahlausgang. Immerhin hat sie jetzt die Möglichkeit, mit drei potenziellen Partnern Koalitionsverhandlungen zu führen.

Allerdings hat die Bundes-CDU schon vor der Wahl ausgeschlossen, dass die Partei in Sachsen mit der AfD koaliert, und auch Tillich selbst hat dem gestern nach der Wahl eine Absage erteilt.

Richtig. Ich glaube auch nicht, dass es wirklich zu Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und AfD kommen wird. Aber als Option ist es immerhin möglich, und das  ist nicht unwichtig bei Verhandlungen mit anderen potenziellen Partnern. Man ist dann nicht so leicht erpressbar.

Immerhin ist die NPD nicht mehr im sächsischen Landtag vertreten, weil sie viele Wähler an die AfD verloren hat. Hat das gute Abschneiden der AfD also auch etwas Positives?

Nein, das kann man so nicht sehen, weil die neue Partei im Werden, die AfD, eine Sammlungsbewegung ist, die – auch in Sachsen – drei unterschiedliche Flügel hat:  einen national-konservativen, einen neo-liberalen und einen rechtspopulistischen. Alle drei Strömungen finden sich sowohl im Wahlprogramm als auch in den Reden der Spitzenkandidaten wieder. Welche Richtung am Ende dominieren wird, ist noch nicht ausgemacht. Aber dass sie insgesamt rechts-konservativ zu verorten ist, das ist erkennbar.

Die AfD hat quasi aus dem Stand fast zehn Prozent geholt in Sachsen. Hat sich die Partei endgültig im Parteienspektrum etabliert?

Nein, denn der Osten wählt immer wilder als der Westen. Das heißt, die Bindung der Wähler an die Parteien ist in den neuen Bundesländern immer schon viel geringer gewesen als in den alten. Da gibt es sprunghafte Entwicklungen nach oben und nach unten. Eine Regel daraus abzuleiten, ist nicht möglich. Außerdem zeigt die Entwicklung der Piraten, dass man die Gunst der Wähler auch sehr schnell wieder verlieren kann.  

Wie lässt sich der große Erfolg der sogenannten Protestparteien in einem Bundesland wie Sachsen erklären, das doch wirtschaftlich recht gut dasteht?

Sachsen ist insgesamt eher ein konservatives Land, das entsprechend konservativ wählt. In der Regel wählen ja eher die Modernisierungsverlierer rechtsextreme Parteien links wie rechts. In Sachsen hingegen hat der relative Wohlstand in der kleinbürgerlichen Mitte offensichtlich Statusängste ausgelöst. Und diese Abstiegsängste haben dann dazu geführt, dass viele, die dem kleinbürgerlichen Lager angehören, aus relativem Wohlstand heraus die AfD gewählt haben – ein eher untypisches Phänomen. Es ist diese Angst-Mitte, die rechts-konservativ auf den Status Quo setzt.

Die FDP ist nicht mehr im sächsischen Landtag und damit in keiner Landesregierung mehr vertreten. Ist damit das Ende der Partei besiegelt?

Nein, die FDP gehört noch acht Landtagen an. Und ihre Beteiligung an der sächsischen Landesregierung hatte ohnehin eher symbolischen Wert, weil sie dadurch nur marginal im Bundesrat Einfluss nehmen konnte. Real bedeutet ihre Abwahl aus dem sächsischen Landtag keine fundamentale Veränderung. Bei einer wählerischen Wählerschaft können neue Parteien eben schnell reüssieren und alte schnell abgewählt werden. Die Möglichkeit, dass Parteien wiederauferstehen, ist aber bei wählerischen Wählern genauso gegeben.

Sachsens FDP-Chef Holger Zastrow hatte sich im Wahlkampf deutlich von der Lindner-FDP distanziert. War das die falsche Strategie?

Der Fehler lag eher darin, dass er nicht Minister war, dass also der einzige FDP-Politiker in Sachsen, der auch bundespolitisch eine gewisse Rolle gespielt hat, keine exekutive Verantwortung hatte. Daher war es für die Wähler gar nicht möglich zu beurteilen, welche Leistung die FDP für Sachsen aufzuweisen hatte.

Welche Chance räumen Sie den Bemühungen einiger früherer FDP-Politiker ein, die jetzt eine neue Partei mit sozialliberaler Ausrichtung gründen wollen?

Man muss eine thematische Lücke finden, um zu zeigen, dass man Probleme anders löst als andere Parteien. Das ist die eigentliche Herausforderung für jede Partei: dass sie ein Defizit der anderen Parteien auszugleichen versucht.  

Und was ist da mit Blick auf die Liberalen am erfolgversprechendsten? 

Dass sie sich auf ihre Wurzeln besinnen, das heißt: Selbstständige schützen, Eigentum schützen, Marktmechanismen ins Zentrum rücken. Ein solches Programm in Reinform spricht bestimmt sieben bis neun Prozent der Wählerinnen und Wähler in Deutschland an.

Die Liberalen sollten sich also eher auf ihren wirtschafts- als auf ihren sozialliberalen Ursprung besinnen?

Ja, in einer Zeit, in der der Verteilungsstaat stärker wird, fänden sicherlich rund acht Prozent der Wählerschaft eine solche liberale Partei noch interessant. Diese Liberale sichern dann Selbstständige. 

Welche Signalwirkung geht von der Sachsen-Wahl für die beiden kommenden Ost-Landtagswahlen in Brandenburg und Thüringen aus?

Zum einen ist sie ein Mobilisierungsschub für alle Anhänger der AfD, die jetzt gesehen haben, dass es durchaus aussichtsreich ist, für die Partei anzutreten und für sie zu kämpfen. Zum anderen ist es eine extreme Demobilisierung für alle FDP-Anhänger und FDP-Mitglieder, die wissen, dass sie auch in Thüringen und Brandenburg auf verlorenem Posten kämpfen.

Das Tal der Tränen ist für die FDP in diesem Jahr also noch nicht durchschritten?

Ja, ich vermute allerdings, dass kluge, antizipierende Politik das längst vorhergesehen hat. Das Entscheidungsjahr für die FDP ist 2017 mit der Wahl in Nordrhein-Westfalen im Mai und der Bundestagswahl im Herbst. Wenn die NRW-FDP mit Lindner an der Spitze im Mai 2017 nicht gewinnt, dann braucht sie bei der Bundestagswahl danach gar nicht erst anzutreten.

Im Grunde ist der Osten von der FDP schon für verloren erklärt worden?

Ja, und nächstes Jahr bei den Wahlen in Hamburg und Bremen ist für die FDP auch nicht viel zu gewinnen. Das ist alles ein Vorgeplänkel für das Jahr 2017. Da  muss man in der sogenannten Berliner Republik auftauchen – mit Themen, mit Personal, mit attraktiven Lösungsangeboten. Dann werden sich wählerische Wähler schon überlegen, ob sie da nicht doch noch mal zugreifen.

Zurück nach Sachsen: Was meinen Sie, welche Koalition wird in den nächsten fünf Jahren den Freistaat regieren?

Schwarz-grün.

Warum?

Weil die CDU einen starken Verhandlungspartner braucht, der in sich gefestigt ist und der vor Kraft nicht überheblich wird. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Grünen kalkulierbarer und verlässlicher als die SPD.

Nun hat die SPD aber auch nicht gerade überragend abgeschnitten.

Ja, aber immerhin hat sie die symbolische Marke von zehn Prozent übersprungen. Da könnten die Sozialdemokraten schon übermütig werden. Zudem verbindet die CDU in Sachsen keine positiven Erinnerungen mit der Großen Koalition dort. Das Vertrauen zwischen den Spitzen von CDU und Grünen hingegen ist extrem gut und ausgeprägt, ausgeprägter als zwischen CDU und dem neuen Personal der SPD.