Blick in die Zukunft

Viele Gemeinsamkeiten, ein großer Unterschied: So lässt sich ein Vergleich der Parlamentswahlen in Estland und Deutschland zusammenfassen. In beiden Ländern gilt die Verhältniswahl, es gibt eine Fünf-Prozent-Hürde und die Legislaturperiode umfasst vier Jahre. Der große Unterschied: Anders als hierzulande können die Esten ihre Stimme auch auf elektronischem Weg abgeben. Im März dieses Jahres haben sie das nach 2007 bereits zum zweiten Mal bei Parlamentswahlen getan. Das E-Voting – oder wie die Esten sagen: I-Voting – erreichte bei der Wahl gar einen neuen Beteiligungsrekord: Während bei der Parlamentswahl vor vier Jahren rund 30.000 Esten ihre Stimme per Internet abgaben, steigerte sich diese Zahl in diesem Jahr auf fast 141.000 – bei rund 913.000 wahlberechtigten Bürgern bedeutete das eine Quote von 15,4 Prozent. Die Wahlbeteiligung insgesamt stieg leicht auf 62,9 Prozent.
Überraschend war jedoch, dass nur 9 Prozent der Internet-Wähler jünger als 24 Jahre waren. Manuel Kripp, Geschäftsführer des österreichischen Kompetenzzentrums für Elektronische Wahlen und Partizipation „E-Voting.cc“, geht davon aus, dass die Wählergruppe der bis 25-Jährigen die Demokratie mehrheitlich als alltäglich einschätzt und daher nur schwer zur Stimmabgabe zu motivieren ist. „Die ,alte‘ Wählerschaft der 25- bis 49-Jährigen hingegen ist die Generation, die den Umbruch erlebt hat und den Wert der Demokratie höher einschätzt.“ Das moderne estnische E-Voting scheint also nicht speziell die medienaffinen Jung- und Erstwähler angesprochen zu haben, sondern die gesamte Bevölkerung. Das liegt wohl auch an einer weiteren Neuheit: Beim diesjährigen Urnengang hatten die Esten die Möglichkeit, per SMS zu wählen. Die Bürger benötigten dafür eine spezielle, kostenlose Sim-Karte, die sie mit zwei Pins aktivieren mussten: Mit der ersten Pin schalteten sie die Karte frei, die zweite Pin erlaubte es den Bürgern, durch den Anschluss des Mobiltelefons an den Computer eine digitale Unterschrift zu hinterlassen.
Ihre Stimme können die Esten schon seit den Kommunalwahlen 2005 elektronisch abgeben. Machten damals nur ein paar tausend Bürger von dieser Möglichkeit Gebrauch, stieg die Zahl der „E-Voter“ bis heute kontinuierlich an. Das baltische Volk ist damit weltweit ein Vorreiter, wenn es um rechtsverbindliche Online-Wahlen auf staatlicher Ebene geht.

Papierlose Regierung

Bei der digitalen Stimmabgabe entstehen durch eine elektronische Verschlüsselung zwei „digitale Umschläge“, die das System im Wahlvorgang trennt und so eine anonyme Stimmabgabe und somit eine „geheime Wahl“ gewährleistet. „Leider liegen bis dato nur wenige wissenschaftliche Studien zum E-Voting in Estland vor“, sagt der Politikwissenschaftler Christoph Bieber, der sich seit langer Zeit mit elektronischen Wahlsystemen auseinandersetzt. In diesen Studien erhalte Estland jedoch gute Noten. Wichtig sei auch, dass die Studien das estnische System generell als funktionssicher einschätzen.
Wollen Regierungen das E-Voting erfolgreich einsetzen, müssen sie vor allem eines gewährleisten: die Sicherheit des Verfahrens. Dabei stellt sich die Frage, wie die verantwortlichen Politiker garantieren können, dass es keinen Missbrauch und keine Wahlfälschung im größeren Stil gibt. Ein zentraler Aspekt ist, der Bevölkerung zu erklären, wer das Wahlsystem entwickelt hat und wie es im Alltag überprüft wird. Dazu gehört laut Manuel Kripp auch, dass die Schlüssel zum „Öffnen“ der digitalen Wahlurne auf mehrere Parteien verteilt sind und unabhängige Kontrolleure sowie lokale, nationale und internationale Wahlbeobachter den Wahlprozess überwachen. Auch die Wählerinformation ist entscheidend: So veröffentlichte die estnische Regierung einen Verhaltenskodex und startete eine Video-kampagne über das korrekte Verhalten bei der Online-Abstimmung.
Überhaupt: Estland lebt die digitale Zukunft in allen gesellschaftlichen Bereichen vor. Per Gesetz hat jeder Bürger das Recht auf einen kostenlosen Internet-Zugang. Nicht nur zu Hause, sondern auch in Schulen, Cafés und Bibliotheken. Die Bürokratie und die Wirtschaft sind elektronisch eng miteinander verzahnt. Das liegt vor allem an der sogenannten ID-Karte, die jeder Este besitzt. Der scheckkartenförmige Ausweis ist mit einem Mikrochip ausgestattet und wird zur Identifizierung bei Polizei und Behörden eingesetzt, aber auch in der Apotheke, bei Banküberweisungen und bei Wahlgängen.
Konsequent hat die estnische Regierung seit vielen Jahren verschiedene E-Government-Verfahren umgesetzt. Gute Beispiele dafür sind das Projekt der „papierlosen Regierung“ und die E-Partizipation der Bürger an politischen Entscheidungen. Die Regierung und die Ministerien sind digital miteinander vernetzt, tauschen sämtliche Dokumente elektronisch aus und stellen der Öffentlichkeit offizielle Dokumente und Archive per Internet zur Verfügung. Gleichzeitig haben die Bürger die Möglichkeit, Gesetze und Richtlinien online vorzuschlagen und an die Regierung zu übersenden.
Doch im digitalen Zeitalter steigen auch die Risiken: Wie verletzlich die Esten geworden sind, zeigte sich 2007: Über einen Zeitraum von zwei Wochen gelang es Hackern per „Denial-of-Service-Attacken“ (DDoS), Server der estnischen Regierung sowie von Banken, Verlagen und Unternehmen lahmzulegen. Von ihrer Begeisterung für das Internet haben sich die Esten dadurch nicht abbringen lassen. Die neue Rekord-Wahlbeteiligung bei der Parlamentswahl hat das bewiesen.

Stimmabgabe im Wohnzimmer

Viele deutsche Politiker und Bürger, die nach Estland schauen, fragen sich, ob das estnische Modell des E-Votings auch auf die Bundesrepublik übertragbar ist. Im Gegensatz zum baltischen Staat gibt es hierzulande jedoch mehr sicherheitstechnische Bedenken und Kritik rund um die elektronische Stimmabgabe. So führt beispielsweise der Chaos Computer Club als ein Ausschlusskriterium für Online-Wahlen potenzielle DDoS-Angriffe an, die sich nicht in den Griff bekommen ließen. In erster Linie dominieren in Deutschland aber verfassungsrechtliche Bedenken. So erklärte das Bundesverfassungsgericht im März 2009 den Einsatz von Wahlcomputern und die Bundeswahlgeräteverordnung bei der Bundestagswahl 2005 für verfassungswidrig.
Setzt eine Regierung auf den Einsatz elektronischer Wahlgeräte, muss sie die vom Bundesverfassungsgericht geforderte „zuverlässige Richtigkeitskontrolle“ beachten. Im Klartext: Der Wähler selbst muss – auch ohne nähere computertechnische Kenntnisse – nachvollziehen können, ob das Wahlsystem seine abgegebene Stimme als Grundlage für die Auszählung unverfälscht erfasst hat. Es reicht nicht aus, dass die Bürger dem System lediglich vertrauen, ohne seine Funktionsfähigkeit überprüfen zu können.
Trotz aller Hürden und Bedenken,­ die es hierzulande für das E-Voting geben mag: Eine Online-Wahl oder eine Mischung aus klassischer und elektronischer Stimmabgabe bietet zahlreiche Vorteile. Beispielsweise erleichtert sie eine ortsunabhängige Wahl: körperlich eingeschränkte Menschen, Bürger, die ihre Stimme lieber im eigenen Wohnzimmer statt in der Wahlkabine abgeben, oder im Ausland lebende Deutsche könnten von einer Online-Wahl profitieren. Steht die technische Zuverlässigkeit des Systems außer Frage, könnte die elektronische Stimmabgabe auch einer Wahlmanipulation und einer Fehlauszählung entgegenwirken. Kurzum: Der gesamte Wahlprozess wäre unbürokratischer, unkomplizierter und kostensparender. Ob sich dadurch auch die Wahlbeteiligung in Deutschland steigern ließe, ist jedoch offen. Das E-Voting lediglich technisch zu ermöglichen, reicht dafür nicht aus.
Wie ein erfolgreiches E-Voting aussieht, können deutsche Politiker übrigens bei der Initiative „D21“ sehen: Seit 2003 wählt das Netzwerk als erster Verein in Deutschland seinen Vorstand auf elektronischem Weg. Für die Initiative hatte die Online-Wahl gleich zwei Vorteile: Sie konnte nicht nur die Wahlbeteiligung steigern, sondern auch die Kosten für die Wahl senken.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Querdenker – Zwischen Fraktionszwang und Gewissen. Das Heft können Sie hier bestellen.