Ach, ihr wohnt zusammen?

Es gibt in Berlin nur noch wenige Ecken in bester Wohnlage, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. In der Nähe vom Holocaust-Mahnmal in der Hannah-Arendt-Straße, fünf Gehminuten vom Potsdamer Platz entfernt, stehen graue Plattenbauten, wahrscheinlich die letzten, die zu DDR-Zeiten gebaut wurden. Die Lokale heißen hier noch „Berliner Kneipe“ statt „Cosmo Lounge“.

Hinter der Tür von Apartment 0401 im 5. Stock scheint sich in den vergangenen 13 Jahren auch nicht viel verändert zu haben. Im Wohnzimmer sitzt ein riesiger Stoff-Teddybär namens Bruno, den sein Besitzer 1999 auf dem SPD-Bundesparteitag gekauft hat, auf einem Kinderbett. Daneben steht ein kleiner Röhrenfernseher der Marke Nokia und eine Stereoanlage mit Kassettendeck.
„Hallo, wollen Sie zu Brase/Röspel?“, fragt ein graumelierter Herr, als die Fahrstuhltür aufgeht. Es ist Mittwochmorgen nach der Bundestagswahl und die Abgeordneten Willi Brase und René Röspel müssen noch am Vormittag in die SPD-Fraktionssitzung.


Beide sind seit 1998 im Parlament, sie sind Kollegen, Freunde und WG-Partner.
Gerade sitzen sie zusammen auf der blauen Stoffcouch im Wohnzimmer, von oben scheint die nackte Glühbirne auf sie herunter, und erzählen, wie sie auf die Idee mit der Wohngemeinschaft gekommen sind. Der 62 Jahre alte Willi Brase aus dem Siegerland fängt an: Als der Bundestag noch in Bonn war, habe er wie Röspel in den Sitzungswochen im Hotel übernachtet. Doch das war auf Dauer unpraktisch. Schließlich konnte man nie etwas dort lassen.

Auch René Röspel (49) kommt aus Nordrhein-Westfalen, genauer gesagt aus Hagen. Als das Parlament nach Berlin zog, fuhren Brase und er oft zusammen mit dem Zug in die neue Hauptstadt. Auf den Fahrten entstand eine Freundschaft. Und schließlich war da die Idee, eine Wohngemeinschaft zu gründen.

„Dabei hatte ich vorher keinerlei WG-Erfahrung“, erinnert sich Röspel. Trotzdem wusste er, dass das mit dem Willi schon gut gehen würde. Denn sie ticken ähnlich: Beide gehören dem linken Parteiflügel der SPD an, haben vor dem Studium eine kaufmännische Ausbildung gemacht, Röspel bei einer Versicherung, Brase im Groß- und Außenhandel. Und: Beide „haben keinen Anspruch, einen Porsche zu fahren“, so Röspel.

Wohngemeinschaften von Abgeordneten gibt es nicht allzu viele. Die beiden wissen von vielleicht einer Handvoll. Dabei gibt es viele Vorteile: Man teilt sich die Kosten, auch für den Putzdienst, und kann auch mal mit seiner Familie ein paar Tage in Berlin verbringen, ohne sie im Hotel einquartieren zu müssen. Vorausgesetzt man findet jemanden, dem man morgens schon im Bad begegnen möchte.


Röspel und Brase jedenfalls sind sehr zufrieden mit ihrer Männer-WG auf 70 Quadratmetern – auch wenn sie sich kaum sehen. Selbst morgens im Bad gibt es keine Probleme, Brase ist Frühaufsteher und verlässt nicht selten schon um fünf Uhr morgens die Wohnung. Die liegt perfekt: Beide haben ihre Büros im Gebäude „Unter den Linden 50“, zehn Gehminuten von der Hannah-Arendt-Straße entfernt.

Die Bilder an den Wänden (die meisten von der Büchergilde Gutenberg) stammen in der Mehrzahl von Adolf „Adi“ Ostertag, der vor Röspel Bundestagsabgeordneter aus Hagen war. Ansonsten zieren Zeichnungen der Kinder – Brase hat zwei, Röspel vier – ihre spärlich eingerichteten Zimmer. Willi Brase übernachtet gar nur auf einem einfachen Klappbett mit einer Futon-Matratze. „Ich bin immer wieder erstaunt, was Frauen aus Wohnungen so machen können“, scherzt Röspel, der in seinem Schrank gerade ein altes dunkelblau kariertes Jackett entdeckt hat. Am Revers steckt noch eine Anstecknadel mit seinen Initialen. „Das Ding muss 18 Jahre alt sein.“
Die Szenen verdeutlichen: Für die Abgeordneten dient ihre Berliner Wohnung meist nur als Schlafquartier. Auf Wohnkomfort und gemütliche Fernsehabende wird verzichtet, weil es der Terminplan gar nicht zulässt.

Kochen sie trotzdem mal was zusammen? „Der Herd in der Küche wurde vielleicht 20 Mal benutzt“, sagt Brase in seiner gewohnt trockenen Art. Und selbst im Kühlschrank herrscht Ebbe. Ein Marmeladenglas, zwei Salatsaucen, deren eine das Verfallsdatum deutlich überschritten hat, und ein Nutella-Glas, das war’s. „Das hat meine 17 Jahre alte Tochter hier gelassen, als sie letztens mit ein paar Freunden in Berlin war“, erzählt Brase.

Auch der Herd von Andreas Schockenhoff sieht eher unbenutzt aus. Der CDU-Abgeordnete aus Ravensburg wohnt seit 2009 in der sogenannten Bundesschlange auf dem Moabiter Werder, eine gigantische Wohnanlage für Parlamentarier und Bundesbedienstete. Die Wohnung hat er von dem ehemaligen CSU-Abgeordneten Georg Brunnhuber übernommen. Hausverwalter ist die Deutsche Annington Immobilien-Gruppe.

An der Eingangstür finden sich noch mehrere Namen von Abgeordneten. In den Fluren reihen sich viele weiße Wohnungstüren hintereinander. Schnell wird klar: Wer ein heimeliges Flair sucht, ist hier falsch.

Schockenhoff wohnt auf 37 Quadratmetern mit Einbauküche, ohne Balkon. Seine Mitarbeiterin Petra Trumpp führt durch die Räume, ihr Chef ist für eine Tagung nach Paris geflogen. Auf dem Bett liegt zusammengelegt sein Schlafanzug. Dahinter baut sich imposant die Skyline von Berlin auf, in der Mitte der Potsdamer Platz. Das Panorama lädt zum Verweilen ein, doch Trumpp bezweifelt, dass ihr Chef die Aussicht überhaupt schon mal bei Tage genießen konnte.

Der Schwabe schätzt an der Wohnung vor allem die Nähe zum Jakob-Kaiser-Haus (zehn bis 15 Minuten zu Fuß) und die Ruhe. Vorher habe er in der Wilhelmstraße gewohnt, zur Straße hin. Die Möbel stammen allesamt aus einem bekannten schwedischen Möbelhaus, das bei den Abgeordneten insgesamt sehr beliebt zu sein scheint. Stolz präsentiert Trumpp im Bad eine Ecke, in der allerlei Putzmittel stehen. „Ja, mein Chef putzt noch selbst“, sagt sie und lacht.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Hallo Kollegen. Das Heft können Sie hier bestellen.